Der Fluss der Geschichten

Der Fluss der Geschichten

Anfängergeist – höre ich, und lausche diesen Worten. Still ist es im Raum. Ich bemerke meinen Atem und meine Bauchdecke, die sich hebt und senkt. Rechts, links, hinter und vor mir sitzen die anderen Mönche. Wir sitzen in Reihen und sind alle schwarz gekleidet. 123 Mönche im Dojo – und vorne am Eingang sitzt unser Meister, der ebenfalls mit uns meditiert. Ich habe den Eindruck, dass er jede Regung von uns allen mitbekommt, und bei diesem Gedanken stockt mir der Atem. Gleich fühle ich mich ertappt und unwohl, und die Atmung gerät erst recht durcheinander.

Meine Gedanken kreisen um meinen Heimatort, um meine Eltern. Wie es ihnen wohl ergehen mag? Ob meine Schwester sie immer noch jeden Sonntag besucht? Ich sollte sie auch mal wieder besuchen. Überhaupt – was bin ich für ein Sohn, der sich so wenig um seine Eltern kümmert?

Mir tut der Hintern weh, und das Sitzkissen, auf dem ich übe, ist heute gar nicht bequem. Die Muskeln in meinen Beinen verspannen und verkrampfen sich, und ich würde am liebsten aufstehen und in den Park nach draußen gehen. Es ist so schönes Sommerwetter, und ich könnte die Sonne genießen. Stattdessen sitze ich in diesem Dojo, schwitze – und der Schweiß rinnt mir zu allem Überfluss jetzt den Rücken hinunter. Das mag ich gar nicht.

Zu allem Überfluss kommt jetzt auch noch eine dicke Schweißfliege und krabbelt auf meiner rechten Wange. Sie beginnt am Kinn und tippelt mit ihren Beinchen in Richtung meines rechten Auges. Es kitzelt mich, und ich würde sie am liebsten mit der Hand verscheuchen – aber das darf ich nicht. Ich muss in der Stille sitzen bleiben und darf mich erst nach dem Gongschlag wieder bewegen. Dann aber auch nicht einfach so und wohin ich will. Wir gehen in Reihe, hintereinander, verlassen das Dojo – und erst dann kann ich mich frei bewegen.

Ach, wie gerne würde ich mich jetzt bewegen.

Ich seufze so leise wie möglich und mache Grimassen mit dem Gesicht – endlich fliegt die Fliege davon. Ich freue mich, doch zehn Sekunden später kommt sie wieder angeflogen und landet zielsicher auf meiner Nasenspitze. Na prima, denke ich, und rümpfe die Nase. Nun verziehe ich das Gesicht so gut es geht – und endlich gelingt es mir, die Fliege zu vertreiben. Sie lässt von meiner Nase ab und fliegt zu meinem Vordermann, wo sie auf seinem Kimono am Rücken rauf und runter krabbelt. Anstatt die Augen gesenkt zu halten, beobachte ich sie. Es ist mir eine willkommene Abwechslung. Diese Zen-Runde dauert aber gerade auch ewig.

Die Fliege ist weg, und ich konzentriere mich wieder auf meinen Atem. Ein- und ausatmen – und die Gedanken wie Wolken an mir vorbeiziehen lassen. Gerade beginne ich, in eine tiefere Versenkung zu gleiten, in Stille und Präsenz einzutauchen, als mich mit aller Wucht und Macht ein Gedanke an meine Exfreundin aus der Ruhe reißt.

Sie hat mich betrogen. Mit ihrem Arbeitskollegen – den ich auch noch kannte. So ein Gauner. Die Wut steigt in mir auf, und meine Galle kocht innerlich über. Nun wird mir noch wärmer, als es ohnehin schon ist, und jetzt fange ich auch noch im Gesicht an zu schwitzen. Die Schweißperlen stehen mir auf der Stirn und tropfen mir über die Augenbraue ins Auge.

Nun ist meine Geduld am Ende, und ich wische mir schnell über die Stirn – in der Hoffnung, dass es niemand bemerkt.

Richtig übel ist mir nun auch noch – zu allem Überfluss. Mein Magen zieht sich zusammen, und das Bild meiner Exfreundin steht so plastisch vor meinem inneren Auge, dass ich das Gefühl habe, sie greifen zu können.

Sie hat mich betrogen. Sie war es, die die Beziehung jäh beendet hat – und damit meinen Weg ins Kloster geebnet hat. Das werde ich ihr nie verzeihen. Niemals.

Ich schmolle und grolle vor mich hin, als endlich der erlösende Gongschlag diese Runde beendet.

Wir nehmen unser Sitzkissen hoch, schlagen unsere Unterlage zusammen und legen das Kissen in der Mitte darauf. Dann stellen wir uns hintereinander in Reihe, legen beide Hände vor unseren Solarplexus und beginnen uns zu bewegen. Ein Fuß vor den anderen: ein halber Schritt, Fuß aufsetzen, ausatmen – einatmen, den hinteren Fuß langsam nach vorne setzen – wieder ausatmen. Den Kopf gerade halten, den Blick im 45-Grad-Winkel. Wir gehen in Kreisen durch das Dojo.

Ein Lufthauch weht an mir vorbei, und die Sommerwärme küsst mich mit ihrem Duft und ihrer Sanftheit. Während der Gehrunde wird das Dojo gelüftet – und es tut mir gut, auch meine Gedanken durchzulüften, die mich im Sitzen noch gequält hatten. Schon fühle ich mich wieder wohler, und die Wut, die ich vor zehn Minuten noch gespürt habe, hat sich verzogen.

Ich atme und gehe.
Atme und gehe.
Wie die anderen im Raum.
Nichts lenkt meine Aufmerksamkeit weg von mir.

Dann ertönt ein Gong, die Fenster werden geschlossen oder gekippt, und wir kehren zurück zu unserem Sitzkissen. Eine weitere Runde Zazen wartet auf uns – diesmal nochmals 45 Minuten. Doch ich bin optimistisch: Nach der Bewegung ist mein Gemüt beruhigt und gefestigt.

Ich setze mich wieder auf mein Kissen, diesmal bewusster. Die Beine sind ein wenig bequemer verschränkt, der Rücken ist aufgerichtet, die Hände ruhen in der Mitte unten vor mir in einem Mudra der Sammlung.

Ich atme ein.
Ich atme aus.

Ein letzter Rest meiner Wut ist noch da – wie ein feiner Dunst in einem gelüfteten Raum. Doch ich halte mich nicht daran fest. Ich beobachte. Es ist nur ein Gefühl. Kein Feind. Kein Freund. Nur ein Moment, der vergeht, wenn ich ihn lasse.

Die Gedanken sind leiser geworden.

Statt Geschichten kreisen nun einzelne Bilder durch meinen Kopf:

Der Kirschbaum im Garten meiner Eltern.
Der alte Küchentisch, an dem meine Schwester mir erzählte, dass sie sich verliebt hatte.
Mein Vater, der nie viele Worte machte, aber immer da war.
Und meine Mutter, wie sie mir früher Geschichten vorlas, wenn ich nicht einschlafen konnte.

Und dann merke ich es:

Es sind nicht nur Gedanken – es sind Erinnerungen. Fragmente meiner Geschichte. Sie fließen durch mich hindurch wie ein Fluss.

Ich muss sie nicht stoppen. Ich muss sie nicht bewerten. Ich kann sie einfach fließen lassen.

Der Meister spricht oft vom „Fluss der Geschichten“, der uns durchzieht, sobald wir still genug werden, ihn zu hören.

Jetzt weiß ich, was er meint.
In dieser Stille sprechen nicht die Stimmen meiner Gedanken, sondern die Geschichten meines Lebens. Nicht laut, nicht fordernd – sondern wie ein leiser Strom, der mir zeigt, woher ich komme.

Ich bin nicht nur der Betrogene. Nicht nur der Mönch im schwarzen Gewand.
Ich bin Sohn. Bruder. Liebender. Suchender. Ein Mensch auf seinem Weg.

Ich sitze. Ich atme.

Und plötzlich – kein Schmerz mehr im Bein. Kein Jucken. Kein Ziehen im Rücken.
Nur der Atem. Die Stille. Der Moment. Ich bin da.

Ein Gong. Die Runde ist vorbei.

Ich öffne die gesenkten Augen.

Nichts hat sich verändert – und doch ist meine Wahrnehmung eine Andere.

Der Raum ist derselbe. Die Mönche dieselben.
Doch ich bin ein Stück weiter in mir angekommen.

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