Es gibt Zeiten in deinem Leben, in denen du besonders deutlich spürst, wie nah du anderen Menschen bist und zugleich, wie fern.
Die Weihnachtstage liegen hinter dir. Die Familie ist zusammengekommen, vielleicht mit Freude, vielleicht mit Anspannung. Deine Erwartungen trafen auf die Erwartungen deiner Familie, alte Rollen auf neue Lebenswege, unausgesprochene Bedürfnisse auf lange Erinnerungen.
Und vielleicht hast du es bemerkt:
Während jemand sprach, warst du innerlich längst unterwegs in deinen eigenen Geschichten.
Du dachtest zu wissen, wie es dem anderen geht.
Du meintest zu fühlen, was sie braucht.
Du sahst Einsamkeit, wo vielleicht gerade Kraft war.
Verlust, wo Wandlung geschah.
Du hast Worte gehört und vielleicht deine Deutungen darübergelegt.
Die Geschichte deines Geistes
Wenn du Zen-Mediation übst, erkennst du irgendwann, dass der Geist unaufhörlich Geschichten erzählt.
Nicht, weil er dir schaden will, sondern weil er gelernt hat, die Welt zu ordnen. Doch manchmal trennen dich diese Geschichten mehr von der Wirklichkeit, als dass sie dir dienen.
Dazu ist mir eine alte Zen-Geschichte eingefallen, die ich mit dir teilen möchte.
Die beiden Mönche am Fluss
Es wird erzählt, dass einst zwei Mönche gemeinsam auf Wanderschaft waren. In der Stille gehend, geübt im Loslassen, aufmerksam für jeden Schritt.
Eines Tages kamen sie an einen Fluss. Das Wasser war angeschwollen, die Strömung stark. Am Ufer stand eine Frau. Sie wollte hinüber, wusste aber nicht wie.
Für die Mönche galt die Regel, Frauen nicht zu berühren.
Der ältere Mönch der beiden sah die Frau, trat ohne Zögern zu ihr, nahm sie behutsam auf den Arm und trug sie durch das Wasser ans andere Ufer. Dort setzte er sie ab, verneigte sich leicht und ging schweigend weiter.
Der jüngere Mönch folgte ihm.
Schweigend.
Stundenlang.
Kilometerweit.
Erst am Abend, in ihrer Unterkunft, brach es aus ihm heraus:
„Du weißt, dass wir keine Frauen berühren dürfen. Wie konntest du sie tragen?“
Der ältere Mönch sah ihn ruhig an und sagte:
„Ich habe die Frau am Fluss abgesetzt.
Du aber trägst sie noch immer.“
Was trägst du noch?
Welche Gedanken hast du, wenn du diese Geschichte auf dich wirken lässt?
Wie oft trägst du Menschen weiter, lange nachdem die Begegnung vorbei ist?
Wie oft trägst du Gespräche, Blicke, alte Sätze, Verletzungen und nennst es Nachdenken, Fürsorge oder Recht-haben-wollen?
Gerade in der Familie geschieht das besonders schnell.
Du glaubst, den anderen zu kennen.
Du weißt, „wie er ist“.
Du erinnerst dich an frühere Rollen, an alte Geschichten und übersiehst dabei den Menschen, der dir jetzt gegenübersitzt.
Zuhören beginnt in dir
Es geht nicht darum alles richtig zu machen.
Sondern daran, wahrzunehmen, was du noch trägst, obwohl es längst losgelassen werden dürfte.
Vielleicht beginnt echtes Zuhören nicht beim nächsten Wort des anderen. Sondern beim Stillwerden deiner eigenen inneren Geschichten.
Beim Erkennen, dass das, was du denkst, fühlst und deutest, nicht die Wahrheit ist. Es ist eine Spiegelung deines Geistes.
Und vielleicht liegt genau darin, nach all den Feiertagen, eine leise Einladung:
Die Menschen, die dir nah sind, neu zu sehen.
Nicht durch die Brille vergangener Erfahrungen.
Sondern mit dem Mut, ihnen heute zum ersten Mal zu begegnen.
Am Fluss dieses Moments.
Mit leeren Händen.
Und offenem Herzen.
Drei Fragen an dich
Welche Geschichte trägst du gerade noch über einen Menschen in deinem Leben, obwohl die Begegnung längst vorbei ist?
Wo hörst du anderen zu, während du innerlich schon deine eigene Deutung formst?
Was könnte geschehen, wenn du für einen Moment alle inneren Geschichten loslässt und nur dem Jetzt begegnest?

